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Weisch wie gärn hani di?

Dieser Text ist für Eltern, welche ein krankes Kind haben oder eines, mit einer Behinderung, ein Kind mit ADHS, ein Kind, welches an Schmerzen leidet, ein Schreikind, ein Kind mit besonderen Bedürfnissen, ein Kind, das vielleicht nicht überlebt, ein Kind, welchem dem man nie genug geben kann.

 

Es ist immer schwierig, seine Kinder loszulassen, aber ein Kind loszulassen, das einem nicht nur viel, sondern eben sehr viel abverlangt, ist eine ganz andere Nummer. Es mischt sich das Gefühl von Erleichterung mit dem Gefühl des Versagens, denn ja, es ist nie genug. Was immer man tut, es wird nicht reichen. Das Kind schreit noch, die Schmerzen bleiben, die Entwicklung ist verzögert oder die Konzentrationsfähigkeit verbessert sich nicht wie erhofft. Behinderungen verschwinden nicht. Man kann unterstützen, motivieren, optimieren, aber es ist, als wäre man bei einem Rennen gestartet, bei dem niemals die Ziellinie erreicht werden kann. Menschen, die gesunde Kinder haben, wissen nicht, was das bedeutet. Sie schütteln verständnislos den Kopf über die Mutter, die ihr Kind mit autistischer Spektrumsstörung mitten im Strandbad anschreit und anfängt zu weinen. Sie glauben, jeder Erfolg, jeder Fortschritt zähle als einer, aber das stimmt äbe nid. Er zählt für das Kind, aber nicht für dich, die Mutter oder der Vater. Denn die Ziellinie wird nicht kommen, du bist gefangen im Hamsterrad. 

 

Am Anfang sind sie alle da. Man erkundigt sich nach dem Kind, bietet Hilfe an ohne konkret zu werden. Während man rennt, feuern einen zu Beginn des Laufs viele liebe Menschen an. Aber grad so sinnlos wie es ist, ein Rennen ohne Ziel zu laufen, ist es ebenso sinnlos, einen Läufer, der nie im Ziel einlaufen wird, anzufeuern. Während am Anfang also kleine Etappensiege gefeiert werden, erwarten alle irgendeinmal ein Ziel und klatschen nicht mehr bei jedem Schritt. Und so beginnen die Menschen in Floskeln mit dir zu sprechen. „Gäu, scho guet, isch die Operation guet cho“,  „Itz wird aues besser!“, „Es entwicklet sech aber guet.“ Niemand fragt mehr nach.

 

Das erste Kind hat mir so viel Freude, Mut und Vertrauen ins Leben geschenkt. Ich fragte mich, was das zweite mit sich bringen würde. Lange Zeit nach seiner Geburt war ich überzeugt: Er ist da, um mich zu lehren. Aber als ich ihn in den Kindergarten hab ziehen lassen, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: 

 

Liebes Kind, du bist da, um zu heilen. Du hast mir aufgezeigt, was Elternliebe bedeutet. "Hauptsache gesund" hat für mich keine Bedeutung mehr, weil ich weiss, dass das nicht im Geringsten meine Liebe gehemmt hat und es niemals würde. Du hattest es nicht leicht, und ich traue mich, dir ehrlich zu sagen: Du wirst es nie leicht haben. Aber dein Herz ist wahrlich aus Gold. Dies ist ein Ausdruck, der durch dein Dasein an Bedeutung gewonnen hat. Meine Liebe zu dir geht über das Leben hinaus. Ich würde für dich sterben, das weiss ich heute ganz genau – denn ich wäre damals mit dir gestorben. Du hast meine allerschlimmsten Muttertiefs erfahren, und als ich für dich, für mich, für uns beide um Hilfe gefleht habe und alle nichts als Zeit und Geduld als heilende Kraft für uns übrig hatten, half mir nur das Mantra „Er ist gekommen um mich zu lehren.“ 

 

Aber hey, deine Superkraft ist dein Lächeln. Lächelst du, lächelt das Universum durch dich, und es ist, als wäre die Welt eine Hundertstelsekunde heil. Und so haben wir uns bis hierhin durchgekämpft. Als viele vergessen haben und uns plötzlich keine Leute mehr anfeuerten, schien ich verloren. Alleine brüllte ich wie eine Löwin für dich, mich und kämpfte um unser Überleben. Und ich darf hier sagen, dass wir beide bis hierhin nicht unbeschadet davongekommen sind. Die Wunden sind noch immer offen, manche Narben unschön verheilt. Aber ich bin nicht traurig wegen dir, ich bin so dankbar und so müde. Gell, es ist schön, haben wir jetzt bitz Distanz, und doch ist es nicht fair, müssen wir uns trennen. Wenn ich an uns beide denke, wird jegliche Zeit, jeglicher Raum nichtig. Niemals werden wir die Zeit, die uns zusteht, zurückerhalten. 

 

Und dann – du warst ein klitzekleiner Stümperniggu und konntest kaum Sätze sprechen – sagtest du vor dem Einschlafen: „Mama, weisch wie gärn hani di? – So gärn bis zum Mond, jedem Stärn einzu und denn nochli umeflüge.“ Endlich konnte ich weinen und ich habe all die Jahre nicht damit aufgehört.

 

Liebstes Kindlein. Ebenso wenig wie deinen älteren Bruder will ich dich blossstellen. Ich möchte dir aber sagen: Du bist wahrlich nicht gekommen, um mich zu lehren. Du bist der Anfang auf meinem Weg der Heilung. Durch dich war ich zum ersten Mal fähig zu spüren, wie es ist, bedingungslos geliebt zu werden. Wenn du mich umarmst, ist mein Kopf leer und mein Herz voll. Nimmst du meine Hand, ist es, als würde Strom durch meinen Körper fliessen und all die schlimmen, tiefen Verletzungen von ganz früher dadurch heilen. Ich dachte, ich sei mit deiner Ankunft ins Bodenlose, Leere gefallen. Aber was in Wahrheit geschah, ist, dass alles unwichtig und klein wurde.  Dadurch wurde Platz geschaffen. Raum für Liebe, in all ihren Facetten. 

 

Ich danke dir für all deine Liebe, für all die schönen netten Worte, ich danke dir für meine allerbesten Freunde und lasse dich nun also deines Weges ziehen. Die Welt muss dich erleben, ig weiss.

 

Und an diejenigen Eltern, welchen es ähnlich geht: Auch die Kinder, die uns sehr brauchen, ziehen ihres Weges. Lasst uns nicht den Anspruch haben, dass es leichter wird und akzeptieren wir, wie wir zurückgelassen werden, mit all den Schuldgefühlen, der Müdigkeit, den Sorgen, der Liebe und natürlich auch der Freude. Und nein, wir kümmern uns jetzt nicht um den Schaden, den das Lebenserdbeben um uns herum angerichtet hat. Wir konzentrieren uns auf das Rennen. 

 

Happy Schulstart allerseits! 

 

Und weisch wie gärn ig di ha? – So viu Stärne am Himu hets gar nid. 

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